EU-Dolmetscher: Der Allessprecher
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Ioannis Ikonomou spricht 32 Sprachen und ein paar Dialekte. Damit steht er sogar in Brüssel alleine da. „Wenn ich eine Sprache lerne, bin ich in sie verliebt“, sagt der fleißige Grieche, der einmal auf der Toilette Armenisch lernte.
Von Hendrik Kafsack, Brüssel
Ioannis Ikonomou versteht solche Leute nicht. Leute, die eine Sprache lernen, dann noch eine und noch eine und noch eine - und gar nicht genug davon bekommen können, Vokabeln und Grammatikregeln zu pauken: „Das ist doch langweilig!“ Die ganze Energie, nur um am Ende noch eine Sprache zu sprechen oder gar nur um einen Job zu bekommen. Er versteht das nicht. Ikonomou spricht 32 Sprachen plus einige alte Sprachen und Dialekte, die er nur passiv beherrscht oder unvollkommen. Aber das ist Abfallprodukt. „Was mich fasziniert, ist die Zivilisation, die Kultur, die Musik und das Essen, die hinter der Sprache stehen“, sagt er. „In das alles vertiefe ich mich. Dann kommt die Liebe für die Sprache von allein.“ Von Liebe spricht Ikonomou oft, wenn es um Sprachen geht: „Wenn ich eine Sprache lerne, bin ich in sie verliebt.“
Beim Sprachenlernen gehe es nicht um Modalverben, meint Ikonomou. „Man muss alles, aber auch wirklich alles wissen wollen über das Land, die Kultur, die Sprache.“ Eine Sprache müsse man leben, neugierig sein, sie lieben. Polnisch zu lernen, das heißt auch Piroggen kochen. Russisch ist Dostojewski, Persisch alte Poesie, Ungarisch Volksmusik, Deutsch der „Weltspiegel“ am frühen Sonntagabend. Überhaupt Fernsehen. „Man muss die Fernsehserien gucken, die normale Menschen Tag für Tag anschauen.“ Und Bücher lesen und Religion leben: Als er Urdu und Hindi studierte, lebte Ikonomou auch die Werte des Hinduismus, war 18 Jahre lang streng vegetarisch. Dann lernte er Persisch, beschäftigte sich mit dem Islam und wurde Sufist, ein Anhänger islamischer Mystik. Heute ist er Atheist. „Was zählt, ist, gut zu sein“, sagt der 44 Jahre alte Grieche. Alles andere kann man nicht in Worte fassen - in welcher Sprache auch immer.
„Ich war ein grausiger Lehrer“
Eine bessere Anleitung zum Sprachenlernen kann Ikonomou nicht geben. Vielleicht war er auch deshalb kein guter Lehrer. Als er Ende der achtziger Jahre nach dem Studium der vergleichenden Sprachwissenschaften in Saloniki nach New York kam, um an der Columbia University die Sprachen des Nahen Ostens zu studieren, unterrichtete er nebenbei Türkisch und Russisch. „Ich war ein grausiger Lehrer“, erinnert er sich. „Ich konnte einfach nicht begreifen, dass es für jemanden schwer sein kann, eine neue Sprache aufzunehmen.“ Dabei ist auch er schon gescheitert. Vietnamesisch ging einfach nicht. Die Grammatik war nicht das Problem, die ist einfach. Aber den richtigen Ton hat Ikonomou nie getroffen - und das ist bei einer Tonsprache wie Vietnamesisch nun einmal entscheidend.
Die meisten anderen Sprachen aber fielen ihm zu. Begonnen hat alles mit den Lauten, die all die Touristen auf seiner Heimatinsel Kreta produzierten. „Für mich waren das irgendwelche Laute ohne jede Bedeutung.“ Also begann Ikonomou, die fremden Laute zu studieren, mit fünf Jahren die englischen, mit sieben oder acht die deutschen, dann die italienischen. „Es gab da eine mit einem Griechen verheiratete deutsche Frau, die mir Deutschstunden gab.“ Das Ö war schrecklich schwer. Es dauerte ewig, bis er „Öl“ sagen konnte und nicht „Äl“ sagte.
„Mein Leben ist oft eine einsame Reise.“
Seine Eltern halfen, wo sie konnten. Sie selbst sprachen Englisch, ein wenig zumindest. Der Vater arbeitete im Ministerium, die Mutter war Lehrerin. Die Leidenschaft ihres Sohnes für Zivilisationen und Sprachen haben sie nie begriffen. Aber sie nutzten, als sie an einer Demonstration für den Frieden in Athen teilnahmen, die Gelegenheit, um unter den Demonstranten eine Türkischlehrerin für ihren Sohn zu finden. Das war Aisha, die ihn die Sprache des griechischen Gegners lehrte. Und sie haben Ikonomou während des Studiums nach Peking geschickt, damit er sein Mandarin verbessern konnte.
Seine besondere Leidenschaft sind die alten Sprachen. Altgriechisch und Latein hat er in der Schule gelernt. Später dann studierte er alte Weisheiten in Sanskrit und altiranischen Sprachen, in Partisch etwa oder Khotanesisch. Zuletzt hat er die Sprache und Schrift der Maja in Mexiko gelernt. „Als ich dann später in Mexiko-Stadt im ,Museo Antropologia' stand und die alten Schriftzeichen las, war das, als ob ich einen eigenen Führer in die Geschichte hätte“, erinnert er sich. „Ich, allein mit den Maja-Sprechern.“ Was ihn daran so fasziniert, können viele nicht verstehen. „Mein Leben ist oft eine einsame Reise.“ Viele Sprachen sprächen viele - die Faszination für Kultur und Geschichte aber teile kaum jemand mit ihm. Auch sein Lebenspartner nicht. Den langweile schon der „Weltspiegel“. Aber er spricht auch kein Deutsch, nur die zwei EU-Standardsprachen Französisch und Englisch neben seiner Muttersprache, dem Polnischen.
Ein besseres Hilfsmittel gegen Alzheimer gibt es nicht
Ikonomou aber kann von Sprachen nicht lassen. Nach seiner Zeit in New York studierte er in Harvard indoiranische und skandinavische Sprachen, dann forschte er in Wien. Nach Brüssel brachte ihn 1994 ein Stipendium des Europaparlaments. Danach hat er sieben Jahre lang als Dolmetscher in der EU-Kommission gearbeitet. Ein anstrengendes Leben war das in den engen Übersetzungskabinen. Heute übersetzt Ikonomou Gesetzestexte. Ein bisschen langweilig sei das schon, meint er. Andererseits sei es doch toll, dass jeder Europäer, sein Vater etwa, Texte der EU in seiner Sprache lesen könne. Das ist Demokratie. Außerdem kann er in Brüssel leben, mit Menschen aus 27 Mitgliedstaaten über ihre Kultur, ihr Essen und ihre Musik reden. Vor allem aber ist der Job nicht zu stressig. Es bleibt viel Zeit zu reisen.
Die braucht Ikonomou, wenn er die vielen Sprachen trainieren will. „Das ist wie beim Sport, wenn du es nicht benutzt, verlernst du es“, sagt er. Er hat einmal Armenisch gesprochen. Das hat er während seiner Zeit beim Militär gelernt. Auf der Toilette. „Da hatte ich zumindest etwas Freiraum.“ Das meiste davon aber hat er wieder vergessen. Zu wenig Praxis. Auch Litauisch spricht er heute nicht mehr. Inzwischen ist es leichter, den Kontakt zu einer Sprache zu behalten. Es gibt das Internet und Satellitenfernsehen. Nachrichten guckt Ikonomou auf Spanisch. Er hat eine russische Lieblings-Talkshow. Und jeden Sonntag, 19.20 Uhr: „Weltspiegel“. Ein besseres Hilfsmittel gegen Alzheimer gibt es nicht. „Studien zeigen, dass Menschen, die oft zwischen Sprachen hin und her wechseln, niemals an Alzheimer erkranken“, sagt Ikonomou. „Da kann ich gelassen in die Zukunft schauen.“ Sein nächstes Projekt ist Äthiopisch - oder auch Amharisch, wie die Verkehrssprache der Äthiopier heißt. „Das ist die älteste afrikanische Sprache mit einer eigenen Schrift, die heute noch gesprochen wird“, sagt Ikonomou. „Vor allem aber liebe ich das äthiopische Essen.“
Fonte: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/eu-dolmetscher-der-allessprecher-1772979.html